Daniel Winkler
Multi Asset Strategist
05.04.2022
Hoffnung und Zinsschritte beflügeln den Markt
Dass die Märkte wieder Tritt gefasst haben, ist erstens mit nicht enden wollenden Hoffnungen auf eine diplomatische Lösung im Ukraine-Krieg in Zusammenhang zu bringen. Zweitens hat die US-Notenbank in Person von Jerome Powell den ersten Zinsschritt im Vorfeld des März-Zinsentscheids sehr klar kommuniziert (und insbesondere mit einem vorab Nein zu einem 50-Basispunkte-Lift-off für Entspannung gesorgt). Drittens schenken die Märkte den Beschwörungen des chinesischen Regimes, nun endlich die Politikunterstützung hochzufahren, jede Menge Glauben. Viertens bewirkt der geopolitische Strukturbruch, dass die EU ihre (Staats-)Ausgaben für Verteidigung und die Reduzierung ihrer Energieabhängigkeit vom russischen Regime massiv erhöht.
Während die skizzierten Faktoren nicht von der Hand zu weisen sind und die Aktienkurse im Falle eines nachhaltigen Kriegsendes kurzfristig Höhenluft schnuppern dürften, sollten eklatante Risiken für das Wirtschaftswachstum und die Berichtssaison nicht übersehen werden.
Der Blick über den Atlantik verdeutlicht die Lage an der Unternehmensfront. So dürfte sich das erwartete Gewinnwachstum für US-Unternehmen (S&P 500) im ersten Quartal auf 4,8 % im Jahresvergleich
abschwächen. Dies ist der langsamste Zuwachs seit dem Schlussquartal 2020. Zudem ist das erwartete Gewinnwachstum seit Jahresbeginn 2022 um rund einen Prozentpunkt nach unten revidiert worden. Im Vergleich zu den Konsensus-Schätzungen von vor drei Monaten könnten von den zwölf berichtenden Sektoren gerade einmal zwei – Energy und Utilities – mit einer höheren NettoGewinnmarge aufwarten. Dies ist in erster Linie auf die steigenden Kostenkurven und anhaltenden respektive sich wieder verschlimmernden Lieferkettenprobleme zurückzuführen. Darüber hinaus liegt der Anteil an Firmen mit einer negativen Gewinnrevision aktuell bei 69 % und damit 9 Prozentpunkte über dem Fünfjahresdurchschnitt.
Bis auf die Sektoren Energy, Utilities und Basic Materials sollten die Zeiten zweistelliger Gewinne vorerst der Vergangenheit angehören. Konkret dürften die S&P 500-Gewinne im ersten Quartal – bis auf die drei genannten Sektoren – unter 4 % fallen. In den anderen Regionen deuten verschiedene Daten – darunter die gewichteten Einmonats-Konsensus-Gewinnschätzungs-Veränderungen – auf ein ähnlich tristes Bild. Dass die Gewinnwolken im zweiten Quartal von neuem Konjunkturoptimismus abgelöst werden, ist sehr unwahrscheinlich.
Reallöhne im freien Fall
Pent-up-Demand dürfte im Rahmen des Re-Openings der Wirtschaft zunehmend weniger Zugkraft entwickeln. Denn die Reallöhne sind global im freien Fall. So hinken die Nominallöhne in Kerneuropa der
Headline-Inflation mehr als 5 Prozentpunkte hinterher! In den USA sieht es hier nicht viel besser aus. Auf
Basis der Statistik der Federal Reserve Bank of Atlanta steigen die USLöhne mit einer annualisierten Rate
von 5,8 % so schnell wie niemals zuvor. Der Sprint der Inflation ist in den USA mit derzeit 7,9 % aber ebenfalls schneller. In Europa dürfte sich an der Lohnsituation kurzfristig enig bis gar nichts ändern. Umfragedaten deuten darauf hin, dass die meisten Arbeitnehmer in Europa nicht nach einer Gehalts-erhöhung fragen, und von denen, die an ihren Arbeitgeber herantreten, erwartet der Median eine Erhöhung unterhalb der Inflationsrate.
Das (Arbeitsmarkt-)Bild sieht in den USA zwar etwas besser aus. Lohnforderungen oberhalb der Teuerungsrate dürften auf breiter Front jedoch auch dort nicht umsetzbar sein. Dass die Notenbanken, allen voran die Fed, aktuell mit großem Vorlauf die zu erwartenden Schritte ankündigen, ist zwar Balsam für Märkte in Kriegszeiten. Allerdings sind die großen Notenbanken im Begriff, die Zinsschraube (zu) deutlich anzuziehen. Die Gefahr ist hoch, dass sie die Lohnverhandlungsposition der Arbeitnehmer verschlimmern, und zwar durch das Herbeiführen einer Phase niedrigen Wachstums (mit höherer Arbeitslosigkeit). Die Pandemie hat einen negativen Angebotsschock ausgelöst, worauf insbesondere die Fiskalpolitik in einem historischen Ausmaß reagiert hat. Die Reaktion der Zentralbanken war zwar ebenfalls erheblich, so dass ein moderates Zurückfahren der Kriseninstrumente zweifelsohne angesagt ist. Jedoch sollten die kommenden Zinserhöhungen angesichts der Wachstumsgefahren nicht übers Ziel hinausschießen. Erste Kurven-inversionen in den USA deuten bereits auf ein kommendes Rezessionsszenario in der größten Volkswirtschaft der Welt hin. Ein deutliches Warnsignal kommt bereits seit Monaten vom dortigen Verbrauchervertrauen. Ein signifikant sinkendes verfügbares Realeinkommen der Haushalte ist hier ursächlich. Eine Sparquote auf dem niedrigsten Niveau seit 2013 lässt ebenfalls aufhorchen.
Ein Eiserner Vorhang, der den Welthandel zurückdrängt, dürfte das Wachstum nicht nur in den USA im
laufenden Jahr und darüber hinaus zusätzlich beeinträchtigen. Die Zeiten, in denen China der große
Wachstumstreiber der Weltwirtschaft war, sollten im vorgenannten Sinne ebenfalls der Vergangenheit
angehören – selbst, wenn sich die inländische Politikunterstützung verdoppeln würde.
Außer in ausgewählten Sektoren des geopolitischen Strukturbruchs sind die Aussichten für die meisten
Regionen infolge der weltweit gesunkenen Kaufkraft der Privathaushalte mäßig. Sich sukzessive verschlechternde Finanzierungskonditionen aufgrund der restriktiveren Geldpolitik belasten die Wirtschaft ebenfalls.
Zusammen mit teilweise angespannten Bewertungsniveaus könnte das noch weh tun. Gerade vor diesem
Hintergrund, der nicht zuletzt eine höhere Volatilität zwischen den Sektoren umfasst, kann die Selektion
einen starken Ergebnisbeitrag liefern.
Abseits einer weiteren geopolitischen Eskalation könnten zunehmende Konjunktursorgen und damit einhergehende Zinspausen der Notenbanken im Verlaufe des zweiten Halbjahres 2022 zwar für eine gewisse Aktienunterstützung sorgen. Dies ist jedoch im besonderen Maße ungewiss. In jedem Falle gilt nach Clausewitz: Krieg verläuft niemals nach Plan, und so werden über die menschliche und politische Tragik hinaus kurzfristige Allokationsveränderungen mehr denn je gefordert sein.